Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte (German Edition) by Philipp Felsch

Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte (German Edition) by Philipp Felsch

Autor:Philipp Felsch [Felsch, Philipp]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406668548
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2015-03-16T16:00:00+00:00


Die Insel des Posthistoire

Zu den Überraschungen, die Peter Gente aus seinem Fundus zog und die ihren Weg in Lotringers Deutschlandheft fanden, gehört auch der zu Beginn dieses Buches zitierte Essay «Der Name Berlin» von Maurice Blanchot. Er hatte ihn unter dem Eindruck des Mauerbaus verfasst und zum ersten Mal 1964 in der italienischen Literaturzeitschrift il ménabo veröffentlicht. Zwanzig Jahre später lasen Paris und Gente den nur wenige Seiten umfassenden Text als Zertifikat eines intellektuellen Standortvorteils. Daher fertigten sie zusätzlich zur englischen Fassung, die in Sémiotext(e) erschien, eine deutsche Übersetzung an und ließen sie als Sonderedition hors commerce unter ihren Lesern zirkulieren. Für Blanchot stellte Berlin ein Problem dar, das sich «jedem denkenden Wesen» stellt. In der Frontstadt des Kalten Krieges hatte er den Skandal einer existentiellen Differenzerfahrung erblickt. Er umschrieb sie wechselweise als leere Mitte und abwesendes Zentrum, als unmögliche Verständigung und aufgeschobenen Sinn. Berlin verwandelte sich in seinen Worten in die Metropole des Poststrukturalismus – eine philosophische Haltung, in Stein gebaut.[53]

Kein Wunder, dass Paris und Gente den Text für wichtig hielten. «Wir sind fast nie in Paris und leben gern in Berlin», schrieben sie, nicht ganz ohne Koketterie, in einem ihrer Briefe an Lotringer.[54] In ihrem Bekenntnis schwingt die Überzeugung mit, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Von Anfang an hatte ihnen die Mauerstadt mit ihren niedrigen Mieten und ihrer geneigten Leserschaft ein Auskommen als Linksverleger garantiert. Doch erst in den achtziger Jahren wurde sie zur Chiffre der Gegenwart. Das sprach sich nicht nur in New York, sondern auch in Paris herum. Deshalb bekamen die Verleger jetzt öfter Besuch von ihren Pariser Autoren. Insbesondere die Theoretiker der Postmoderne – Baudrillard, Lyotard, Virilio – scheint es nach Berlin gezogen zu haben. Das lag an den Einladungen ihrer ersten deutschen Leser.[55] Es lag aber auch daran, dass von der Stadt eine besondere Faszination ausging. Lyotard, der im Januar 1983 seine gerade auf Deutsch erschienene Gegenwartsdiagnose La Condition postmoderne im Seminar von Dietmar Kamper vorstellte, zeigte sich in jeder Hinsicht begeistert. Nach seiner Abreise ließ er Paris und Gente wissen, er habe in Berlin «die echte Avantgarde» erblickt.[56] Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, was es war, das Lyotard so zeitgemäß fand, führt ein Hinweis von Heiner Müller weiter. Im Interview, das Sylvère Lotringer mit ihm für das German Issue führte, sprach er ausführlich über die geistige Atmosphäre seiner Heimatstadt. Dabei war ein Motiv für Müller besonders wichtig: «Von hier aus kann man das Ende der Geschichte deutlicher sehen.»[57]

In seinem Buch City of Quartz ist Mike Davis der Frage nachgegangen, woher die Vorliebe der Intellektuellen von Los Angeles für dystopische Zukunftsentwürfe kam. Von der Boheme der zwanziger Jahre über die Exilanten der Kritischen Theorie bis zu den Autoren des L. A. Noir haben sie immer neue Versionen des urbanen Alptraums durchgespielt.[58] Offenbar gibt es Städte, die einen Denkstil prägen. Zu diesen Städten gehörte auch West-Berlin. Doch während Los Angeles seine Bewohner dazu inspirierte, sich eine düstere Zukunft auszumalen, provozierte Berlin ein ganz anderes Geschichtsgefühl. Es fiele schwer,



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